3D-Druck am Point of Care: Ein Blick in aktuelle Praxis und Potenziale
3D-Druck galt lange als kreatives Hobby für technikaffine Tüftler – ein Mittel, um fehlende Ersatzteile zu Hause herzustellen oder praktische Alltagshelfer zu produzieren. Doch was einst mit Kleinteilen für den Haushalt begann, ist heute eine dynamische Innovation im Gesundheitswesen. Der Sprung von der privaten Werkbank in den klinischen Alltag ist vollzogen – und eröffnet Chancen, die vor wenigen Jahren kaum vorstellbar waren.
Im Gespräch mit dem Medizintechnikingenieur Jakob Föhres von Materialise, einem der führenden Unternehmen im Bereich medizinischer 3D-Druck-Software und -Services, wird deutlich: Die Technologie hat das Potenzial, Diagnostik, Planung und Behandlung grundlegend zu verändern. Besonders spannend ist dabei der Ansatz des 3D-Drucks am Point of Care (PoC) – also direkt im Krankenhaus.
Was bedeutet „3D-Druck am Point of Care“?
Point of Care meint den Ort der Behandlung: das Krankenhaus selbst. Durch moderne Bildgebung wie CT, MRT oder Photonen-Counting-CT entstehen hochaufgelöste 3D-Daten, die sich hervorragend für die Rekonstruktion anatomischer Strukturen eignen.
Der entscheidende Vorteil: 3D-Modelle lassen sich direkt vor Ort herstellen, ohne dass externe Dienstleister eingeschaltet werden müssen.
Das ermöglicht:
- deutlich kürzere Wartezeiten,
- präzisere preoperative Planung,
- realitätsnahe anatomische Modelle, die Chirurginnen und Chirurgen in der Hand halten können.
Jakob unterstützt bei Materialise insbesondere Universitätskliniken bei der Einrichtung solcher Prozesse: von der Segmentierung der Bilddaten über die Modellierung bis hin zur Sicherheit und Qualität in der Herstellung.
Vorteile und Chancen für Kliniken und Patienten
Der Einsatz des 3D-Drucks am Point of Care bringt erhebliche Mehrwerte mit sich, die über die reine Herstellung hinausgehen:
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Verbesserte Behandlungsplanung und Effizienz
Genauigkeit: Chirurgische Eingriffe, selbst minimalinvasive, können anhand des realen 3D-Modells präziser vorgeplant werden (z. B. die optimale Platzierung von Schrauben oder das Vorbiegen von Platten in der Unfallchirurgie).
Zeitersparnis im OP: Durch die detaillierte Vorplanung kann die Operationszeit reduziert werden. Das ist nicht nur effizienter für das Krankenhaus, sondern schont auch den Patienten, da die Narkose- und Bestrahlungszeiten verkürzt werden.
Behandlung komplexer Fälle: Manchmal sind sehr komplexe Fälle ohne die Möglichkeiten des 3D-Drucks gar nicht oder nur schwer behandelbar. -
Personalisiertes Lernen und Patientensicherheit
Ausbildung: Gedruckte anatomische Modelle, wie z. B. Herzen bei angeborenen Herzfehlern, dienen als kostengünstiges und realitätsnahes Lehrmaterial für angehende Chirurginnen und Chirurgen.
Patientenaufklärung: Ein 3D-gedrucktes Modell des betroffenen Organs hilft Patienten und deren Angehörigen, komplexe Eingriffe besser zu verstehen und somit informierter in die Behandlung zu gehen. Das ist besonders wertvoll bei pädiatrischen Fällen. -
Personalisierte Medizin
Der 3D-Druck ist prädestiniert für die personalisierte Medizin. Besonders in Bereichen, in denen die individuelle Anatomie entscheidend ist (z. B. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie), ermöglicht er die Herstellung patientenspezifischer Implantate und Hilfsmittel.
Wie entsteht ein 3D-gedrucktes medizinisches Modell?
Der Prozess ist technisch anspruchsvoll, aber klar strukturiert:
- Bildgebung (CT/MRT) → Rohdaten
- Segmentierung → Umwandlung der Bilddaten in ein 3D-Modell
- Design → Feinbearbeitung, z. B. Hohlräume, Wandstärken, Funktionsflächen
- 3D-Druck → je nach Material und Technologie (Kunststoff, Harz, Metall)
- Post-Processing → Reinigung, Entfernen von Stützstrukturen, Sterilisation
In Kliniken dominieren derzeit Technologien wie:
- FDM (Filamentbasiert, ideal für einfache Modelle),
- SLA (Harz, sehr hohe Präzision),
- Selective Laser Sintering (Pulverbettverfahren für funktionale Modelle),
- PolyJet (Mehrfarb- und Multimaterialdruck).
Wo wird 3D-Druck bereits erfolgreich eingesetzt?
Jakob zeigt Beispiele aus der täglichen Praxis:
Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie
- Orbita- und Kieferrekonstruktionen
- Patientenspezifische Platten
- Digitale OP-Planung
- Bohr- und Sägeschablonen
Orthognathe Chirurgie
Bei Kieferfehlstellungen dienen gedruckte Splints dazu, den richtigen Biss nach osteotomischen Eingriffen einzustellen.
Diese Anwendung ist heute bereits klinischer Standard.
Rekonstruktive Chirurgie
Etwa beim Wiederaufbau großer Defekte infolge von Tumoren – z. B. durch Fibula-Transplantate – sorgt 3D-Planung für besondere Genauigkeit und Stabilität.
Pädiatrische Kardiologie
Hochkomplexe Herzfehler werden durch realitätsnahe 3D-Modelle sicht- und planbar.
Wo liegen die Grenzen und Herausforderungen?
1. Regulatorische Anforderungen (Medizinprodukterecht)
Der größte Knackpunkt ist das Medizinprodukterecht. Sobald ein Krankenhaus entscheidet, selbst ein Produkt wie eine Bohrschablone zu drucken, wird es zum Medizinproduktehersteller und muss komplexe regulatorische Anforderungen sowie strenge Qualitätssicherungen einhalten. Die europäische Medical Device Regulation (MDR) erlaubt zwar unter bestimmten Voraussetzungen (Artikel 5) den 3D-Druck am PoC, dies erfordert jedoch einen erheblichen bürokratischen und organisatorischen Aufwand.
2. Kosten und Know-how
Die Anschaffungskosten für die 3D-Drucker und die spezielle Software sind ein erster Investitionsfaktor. Zudem erfordert die Erstellung komplexer Modelle sehr geschultes Personal mit spezifischem Know-how im Bereich des Designs und der Materialwissenschaft.
3. Geeignetheit für die Massenproduktion
Der 3D-Druck ist aufgrund von Kosten und möglichen Stückzahlen noch nicht die Technologie, die klassische Fertigungsverfahren für Standardimplantate in der Massenproduktion ablösen kann.
Fazit: Eine Technologie, die das Potenzial hat, Standard zu werden
Der medizinische 3D-Druck ist aus vielen Kliniken nicht mehr wegzudenken.
Ob als Schulungsmodell, Implantat oder OP-Guide – kaum eine andere Technologie treibt den Trend zur personalisierten Medizin so stark voran.
Der Blick von Jakob zeigt eindrucksvoll:
3D-Druck am Point of Care ist längst keine Zukunftsmusik mehr, sondern ein wachsender Bestandteil moderner Spitzenmedizin.
Die kommenden Jahre werden darüber entscheiden, wie flächendeckend und selbstverständlich er in deutschen Kliniken eingesetzt wird.
Wenn Sie das vollständige Gespräch im Webcast mit Jakob von Materialise ansehen möchten, klicken Sie einfach auf das folgende Video. Dort erhalten Sie noch tiefere Einblicke in die Praxis des 3D-Drucks am Point of Care — inklusive konkreter Klinikbeispiele und Ausblicke auf zukünftige Entwicklungen.
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Interview
3D-Druck im Gesundheitswesen
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